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Konzeptionelle Aspekte systemdynamischer Modellbildung im naturwissenschaftlichen Unterricht.  Horst Schecker


 
5. Modellbildungssysteme als Werkzeuge in expressiven Lehr-/Lernumgebungen

Aus dem britischen Modellversuch Tools for Exploratory Learning (Bliss 1993) kann die Unterscheidung zweier Modi im Umgang mit Modellbildungssystemen übernommen werden:

- exploratory mode: Erkundung eines fertigen Modells durch Simulationsläufe und Modifikationen der vorgegebenen Modellstruktur

- expressive mode: eigene Konstruktion und Erprobung eines Modells zu einem vorgegebenen Sachverhalt.

In den eigenen Unterichtsstudien wurde fast ausschließlich im expressiven Modus gearbeitet. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der expressive Umgang mit Modellbildungssystemen den Schülern Möglichkeiten zum Experimentieren mit Ideen schuf und im Bereich der theoretischen Unterrichtsanteile einen Umfang an Eigentätigkeit der Schüler ermöglichte. Nahezu allen Schülern gelang die eigenständige Konstruktion von Modellen, bzw. die aktive Beteiligung an Gruppengesprächen. Freiräume für eigene Fragestellungen und Lösungsansätze sind sonst im wesentlichen auf Experimente begrenzt. Hier können die Schüler Änderungen an bestehenden Experimentalanordnungen vornehmen oder ganz eigene Versuche aufbauen. Bei theoretischen Zugängen zu einer Fragestellung sind die Variationsmöglichkeiten durch begrenzte mathematische Fertigkeiten für das Austesten der Konsequenzen aus den gemachten physikalischen Annahmen eher gering und im Vergleich zu eigenen experimentellen Untersuchungen bei den Schülern eher unbeliebt.

Wenn man Schülern Raum zur Entwicklung eigener Modellierungsansätze gibt, sind individuelle Lösungswege möglich, die sich in den Ergebnissen niederschlagen. Zumindest die Bezeichnungen der Systemgrößen und der Grad an Explizität der Modellstrukturen haben sich in den Schülermodellen unterschieden. Mit Explizität ist gemeint, wie stark die Einflussgrößen im Simulationsdiagramm eines Modells einzeln ausgewiesen sind, bzw. im umgekehrten Falle, wieviele Parameter (Konstanten, Faktoren) direkt als Zahlenwerte in den Modellgleichungen versteckt bleiben (s. dazu Abb. 2). Bereits die Wahl unterschiedlicher Bezeichner für Modellgrößen spiegelt die Individualität der Herangehensweisen wieder. Für die Schüler machte es einen Unterschied in der Anschauung, ob eine Zustandsgröße "N", "Hasen" oder "Beutetiere" heißt. Bei der vergleichenden Präsentation der Ergebnisse von Gruppenarbeit war es deshalb erforderlich, dass die Schüler sich gegenseitig "Übersetzungshilfen" für ihre Modellstrukturen gaben, die aus Sicht des erfahrenden Modellierers strukturell äquivalent waren.

Die hier ursprünglich eingefügte Originalabbildung
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ist leider im Daten-Nirwana verschollen.

Abb. 2: Unterschiedlicher Grad an Explizität bei zwei äquivalenten Modellen zum Stromfluss durch eine Spule (oben: Vorschlag aus Handbuch; unten: Schülerlösung).

Strukturell grundlegend unterschiedliche Modelle zum selben Phänomen, die gleichermaßen sachlich angemessen waren, traten in den Feldstudien nicht so häufig auf, sind jedoch als Ergebnisse aus mehreren Gruppenarbeitsphasen dokumentiert. In Abbildung 3 wird die Arbeit bei der Aufladung eines Kondensators modelliert. Beide Gruppen kommen zu einer sinnvollen Vorhersage der aufzuwendenden Arbeit. Die Vorgehensweisen sind jedoch unterschiedlich. Während die erste Schülergruppe (Modell A) vereinfachend eine zeitlich konstante Ladungsänderungsrate ΔQ/Δt ansetzt, berücksichtigt die zweite Gruppe den korrekten zeitlichen Verlauf von Q(t). Aus der Wahl der Bezeichner im zweiten Modell kann man entnehmen, dass die Gruppe sich für das Modell anschaulich am experimentellen Aufbau orientiert hat (Vorwiderstand, Batteriespannung), während die erste Gruppe eher formal vorgeht (dQ, dW). Ein anderes Beispiel für strukturell unterschiedliche Lösungen in Gruppenarbeit ist die Behandlung der Raketenbewegung über den Impulsänderung oder alternativ über die Schubkraft (s. Bethge 1990).

Die meist beobachtete strukturelle Äquivalenz - bei unterschiedlicher Explizität und Benennung der Größen - kann mindestens zwei Ursachen haben:

  • Die Fragestellungen waren nicht offen genug und ließen von den Strukturen her nur eine sinnvolle Lösung zu.
  • Die Lehrer haben die Bearbeitung zu stark gelenkt und die Schüler durch gezielte Hinweise zu der intendierten Musterlösung geführt.

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Abb. 3: Zwei unterschiedliche Modelle zur Kondensatorladung (aus Gruppenarbeit). In Modell B wird der zeitliche Verlauf des Ladestroms modelliert, während in Modell A eine konstante Ladungsmenge pro Zeiteinheit auf den Kondensator fließt. Bezüglich der zu verrichtenden Arbeit kommen beide Modelle zur gleichen Vorhersage.

Nur selten wurden von Schülern konzeptuell falsche Modelle vorgestellt, die nach Erkenntnissen über Schülervorstellungen und verbreitete Verständnisschwierigkeiten im jeweiligen physikalischen Sachgebiet eigentlich zu erwarten gewesen wären. Abbildung 4 zeigt zwei physikalisch korrekte Modelle für den Zusammenhang zwischen Kraft und Bewegung sowie zwei Modelle, in denen alternative Schülervorstellungen zum Ausdruck kommen. Im Unterschied zu unvollständigen, unzureichend quantifizierten (z.B. falsche Zeitparameter) oder numerisch instabilen Modellen sollen solche Modelle als alternativ/miskonzeptuell bezeichnet werden. Modelle des Typs C oder D wurden von Schülern in den Erprobungen jedoch als Ergebnis von Gruppenarbeit nicht vorgelegt und nur selten bei der Diskussion von Modellen im Klassenunterricht vorgeschlagen.

Neben frühzeitigen Eingriffen durch den Lehrer und einer Orientierung der Schüler auf eine korrekte Lösung kann dafür ein weiterer Grund angesetzt werden:

  • Das Modellbildungssystem lässt miskonzeptuelle Modelle aufgrund impliziter systemdynamischer Restriktionen nur begrenzt zu.

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Abb. 4: Vier Modelle zum Zusammenhang von Kraft und Bewegung. Die Modelle A und B sind physikalisch korrekt, während C und D typische Schülervorstelungen ausdrücken. Modell C beruht auf der Annahme, dass die Geschwindigkeit eines Körpers direkt von der Antriebskraft abhängt ("Je größer die Kraft, desto höher die Geschwindigkeit"). In Modell D kommt zusätzlich die komplementäre Annahme zu tragen, dass die "Kraft eines Körpers" mit seinem Tempo zusammenhängt ("Je schneller desto wuchtiger"). Im Modell treten keine Zustandsgrößen auf, d.h. die Kraft wirkt nicht zeitlich vermittelt auf die Geschwindigkeit sondern direkt funktional.

Im Gegensatz zu Stella weigert sich Modus, ein Modell des Typs D (s. Abb. 4) durchzurechnen, da es keine Zustandsgröße enthält. Es ist andererseits jedoch ein verbreitetes Merkmal von Schülervorstellungen, dass keine zeitlich vermittelten Wirkungen angenommen werden, wie sie in Ratengleichungen zum Ausdruck kommen, sondern direkte (funktionale) Abhängigkeiten (z.B. zwischen Kraft und Geschwindigkeit). Außerdem haben wir in vielen Fällen beobachtet, dass Schüler versuchen, ein geschlossenes algebraisches Modell unmittelbar mit Hilfe eines Modellbildungssystems umzusetzen, d.h. den Systemdynamik-Ansatz zu umgehen und das Programm als Funktionsplotter zu verwenden. Bei einfachen Vorgängen, bei denen die Schüler eine geschlossene Lösung bereits kennen, ist dieses Vorgehen naheliegend. Wenn Schüler die Herangehensweise auch bei komplexeren Vorgängen anwenden wollen, muss man ihnen die Gelegenheit geben, das Scheitern des Ansatzes zu erfahren, ohne dass das Modellbildungsprogramm strukturell korrigierend einwirkt.

Ein weiterer, aus dem systemdynamischen Ansatz und seiner Realisierung in der Struktur von Modellbildungsprogrammen resultierender Grund dafür, dass miskonzeptuelle Modelle so selten in den von Schülern präsentierten Ergebnissen beobachtet wurden, kann darin vermutet werden, dass zwischenzeitliche (Fehl-) Versuche in den Unterrichtsbeobachtungen verlorengingen. So ist es - aus systemdynamisch verständlichen Gründen - nicht möglich, einen Einflusspfeil von einer Funktion zu einer Zustandsgröße zu ziehen. Im Simulationsdiagramm werden solche Mausoperationen des Benutzers vom Programm ignoriert oder zurückgewiesen. Wenn wir beim Kraft-Bewegungs-Beispiel bleiben, ist es für Schüler nicht möglich, die Annahme "Je größer die Kraft, desto größer die Geschwindigkeit" durch einen Einflusspfeil in ein Modell einzubauen, wenn "v" als Zustandsgröße formalisiert wurde. Die Hypothese, dass solche Versuche, die im Endergebnis einer schülerorientierten Modellbildungsphase nicht mehr erkennbar sind, dennoch zwischenzeitlich unternommen werden, kann untersucht werden, wenn man den Prozess der Modellkonstruktion auf Video aufzeichnet und im Detail analysiert.

Durch die diskutierte nur begrenzte Offenheit für miskonzeptuelle Modelle wird ein Vorteil von Computer-Modellen relativiert, den Driver (1988, 6) folgendermaßen benennt:

- They require children to make their implicit reasoning explicit (through, for example, simulations of object motion or collisions),

- they enable children to visualize the consequences of their reasoning and provide an object for reflection and communication with others.


© 1997 DIFF Updated: Mai, 1997